Als jemand wie ich, der sich viel mit Uhren befasst, neigt man dazu, Schubladen zu öffnen und zu befüllen. Im Falle von Uhrenmarken sind dies unter anderem die Schubladen Konzern, Unabhängig, Familie und Newcomer.
Nun steht bei Longines unweigerlich die Schublade Konzern weit offen. Dabei vergisst man schnell, dass bei aller konzernbedingter Synergie die Geschichte der Marke wesentlich länger und reicher als die der heutigen Mutter Swatch Group ist.
Blendet man für einen Moment die Familienverhältnisse aus, dann lernt man beim Longines-Besuch in St. Imier eine Marke kennen, die neben dem Konzern- noch in ein ganz anderes Schubfach gehört.
Nämlich in die der Marken mit viel Historie und noch mehr Geschichten und innovativer Energie – und das bereits zu einer Zeit, in der ein Konzern wie die Swatch Group noch nicht einmal denkbar war.
Denn 1832 gegründet, ist Longines die älteste eingetragene Uhrenmarke der Welt, deren zentrale Produktionsstätte sich seit 1852 im schweizerischen St. Imier befindet.
Beredtes Zeugnis davon gibt das Museum der Marke ab, welches ebenfalls in St. Imier im Firmengebäude angesiedelt ist, genauso wie die Produktionsabschnitte T1 (Assembling der Werke), T2 (Einschalung der Werke und Fertigstellung der Uhren) und T3 (Armbänder anlegen) sowie die Customer Care Abteilung, wozu unter anderem die Heritage-Werkstatt gehört.
Letztere befasst sich vorrangig mit der Reparatur und Wartung von Longines-Uhren aus Privatbesitz, die bis 1984 produziert wurden. Und meist geschieht dies noch mit Original-Ersatzteilen.
Denn Ernest Francillon, der 1852 das Unternehmen von seinem Onkel Auguste Agassiz übernommen hatte, hatte nicht nur die Vision, die Uhrenproduktion zu vertikalisieren und an einem Ort zusammenzufassen.
Er hatte zudem den Anspruch, dass man jede Longines-Uhr auch Jahrzehnte später noch instand setzen können müsste. Dementsprechend wurde vorgesorgt, sodass noch heute die Schränke mit Ersatzteilen vergangener Zeiten, die bis zu 100 Jahre alt sein können, gut gefüllt sind .
Auch Dokumentation und Zeichnungen viele Uhren sind noch vorhanden.
Mindestens ebenso gut gefüllt ist das hauseigene Museum, zum Beispiel mit Geschichten über Pionierinnen und Pioniere der Luftfahrt, die sich schon früh auf Longines verlassen konnten.
Denn die Marke war in vielen Bereichen ein echter First Mover. Ein Beispiel ist die drehbare Lünette, welche die Marke ursprünglich für Piloten zur Messung der verbleibenden Flugzeit entwickelte und die bis heute unabdingbar für eine Taucheruhr ist.
Auch der erste Flyback-Chronograph, die erste Chronographen-Armbanduhr, die vom US-amerikanischen Piloten Charles Lindberg angeregte Stundenwinkeluhr und das GMT-Werk stammen von Longines.
Unzählige Patente und Instrumente für die Navigation stehen auf der Habenseite der Marke. Und auch in puncto Hochfrequenz-Zeitmessung war Longines 1914 die erste Marke, die in der Lage war, auf die Zehntel-und ab 1916 auf die Hundertstelsekunde genau Sportrennen zeitlich zu erfassen.
Heute arbeitet Longines mit den Schwestermarken Omega und Tissot eng mit Swiss Timing zusammen, der renommierte Swatch-Group-Abteilung für Sportzeitmessung auf der ganzen Welt.
Aber fast noch mehr als die Meilensteine der Marke, die es im Museum zu entdecken gibt, beeindruckt die Besucher – mich eingeschlossen – der Raum mit den vielen, vorrangig roten Büchern.
Denn in diesen sind alle Uhren mit detaillierten Angaben (seit 1867 mit durchgehenden Seriennummern) aufgeführt, die je die Manufaktur bis zum Zeitalter der Digitalisierung verlassen haben – ohne Unterbrechung.
Das gibt es so kein zweites Mal. Spätestens während der Quarzkrise, in der nur Wenige an die Renaissance mechanischer Uhren glaubten, wurden viele Archive aufgelöst und vernichtet.
Nicht so bei Longines.
Welchen Stellenwert das Museum für die Marke hat, wird nicht nur daran deutlich, wie liebevoll es geführt wird, sondern auch daran, dass es demnächst erweitert und in ein eigenständiges Gebäude verlegt werden soll.
So will man noch mehr als die aktuell 5.000 Besucher jährlich empfangen. 50.000 sollen es allein im ersten Jahr nach der Neueröffnung werden, denen man dann von der eigenen, ganz unabhängigen Geschichte in St. Imier berichten möchte:
Ein deutliches Zeichen für den bestehenden und zukünftigen Stellenwert von Longines im Konzernkonstrukt Swatch Group.
Wie es aktuell um die Marke bestellt ist, ob man schon jetzt ausreichend über die Errungenschaften der Marke spricht, darüber unterhielt sich CEO Matthias Breschan mit WatchPro bei einem Besuch in St. Imier.
WatchPro: Wir durften hier in St. Imier heute sehr viel aus der Geschichte, aber auch von Longines im Hier und Jetzt erfahren. Spricht die Marke ausreichend darüber? Oder sind zu viele Geschichten einfach noch nicht erzählt worden?
Matthias Breschan: Es gibt noch vieles aus unserer Geschichte, was im Keller gelagert wird, da wir gar nicht den Platz haben, das alles auszustellen.
Auch hinsichtlich all der Erfindungen, Patente und Innovationen von Longines sind wir leider noch sehr beschränkt in der Möglichkeit, all das angemessen darzustellen.
„Aber das wird sich demnächst ändern.”
WP: Das ist gut, denn ich denke, viele wissen kaum etwas über die wichtige Rolle, die Longines für die gesamte Uhrenindustrie gespielt hat.
MB: Das ist absolut richtig, aber wir arbeiten daran, dass sich das ändert. Ich war zum Beispiel vergangene Woche in Paris, da uns das Museum Le Bourget angesprochen hatte, ein großes Museum rund um die Aviatik. Und die möchten einen neuen Bereich eröffnen, der nur der Geschichte der Fluginstrumente gewidmet ist.
Wir sind dafür natürlich einer der wichtigsten Partner, um mit Ausstellungsstücken dazu beizutragen, aber auch, um die Geschichte und die Bedeutung der Fluginstrumente zu erzählen.
Nehmen Sie das Beispiel des Flyback-Chronographen: einen Chrono zu stoppen, ihn zurückzusetzen, dann wieder neu zu starten, das sind drei Handgriffe, die Zeit kosten und die schnell ein paar hundert Meter Abweichungen bedeuten können.
Ein Flyback-Chronographen hingegen ermöglichte den Neustart der Zeitmessung in Sekundenbruchteilen und somit eine wesentlich genauere Navigation in der Luft.
WP: Heute benötigt man solche Funktionen eigentlich nicht mehr wirklich, an Faszination haben sie aber trotzdem nichts verloren. Longines hat zudem das große Glück, dass man nicht nur die Funktionalität, sondern auch noch die Geschichte dazu bieten kann. Stellt Longines da sein Licht ein wenig unter den Scheffel?
MB: Dazu muss man sagen, dass wir erst in den zurückliegenden fünf bis sieben Jahren einen riesigen Trend bei Vintage-Uhren erlebt haben. Das hat natürlich das Interesse an den Historien von Uhrenmarken stark wachsen lassen, das war vorher nicht so ausgeprägt.
Vor zehn Jahren hieß es – überspitzt gesagt – eigentlich nur, je größer, desto besser. Jetzt gehen die Größen wieder zurück.
Dieser Vintage-Trend wurde verstärkt durch das zunehmende Interesse von jungen Leuten. Die erkennen, dass Uhren wahrscheinlich zu den nachhaltigsten Produkten überhaupt zählen.
Niemand kauft eine Uhr und wirft diese nach sechs oder zwölf Monaten weg. Man kauft wieder Uhren für sein ganzes Leben und sogar die nächste Generation.
„Das heißt, in den meisten Fällen wird die Uhr älter als der Uhrenkäufer”
Möglicherweise hat auch die Pandemie diesen Trend zu Vintage und Nachhaltigkeit bei Uhren verstärkt. Für viele, gerade junge Leute war das eine traurige Zeit, die das Bedürfnis nach sicheren Wurzeln, einen Anker in der Vergangenheit geweckt hat, der für Stabilität steht.
WP: Sie haben eben die Pandemie angesprochen, die weltweit die Märkte durcheinander gewirbelt hat. Unter anderem ist China, beziehungsweise sind chinesische Touristen plötzlich lange als Kunden ausgefallen und viele Marken haben sich wieder auf den lokalen Kunden konzentriert. Gilt das auch für Longines?
MB: Longines war und ist in Asien beziehungsweise in China einer der Marktführer. Und wenn Chinesen gereist sind, dann haben sie auch massiv Luxusgüter eingekauft, vorwiegend Uhren. Das war natürlich sehr erfreulich.
Andererseits haben wir es auch zugelassen, dass sich Einzelhändler in touristisch sehr exponierten Gegenden eigentlich nur noch auf die chinesische Kundschaft fokussiert haben.
Und lange war das natürlich sehr viel einfacher, als sich auf einen wissbegierigen lokalen Kunden einzulassen. Das haben wir jetzt entsprechend geändert.
Mit der Pandemie trat dies offen zutage. Das war so etwas wie eine Alarmglocke für uns, damit wir niemals vergessen, dass in jedem Land der einheimische Markt und Kunde immer Priorität haben sollte.
WP: Wirkt sich das auch auf die Produktstrategie von Longiens aus?
MB: Auf jeden Fall. Deshalb haben wir die Linien, die eher auf den europäischen und den amerikanischen Markt zugeschnitten sind, verstärkt und ausgeausgebaut. Da schließt sich der Kreis, denn dabei haben wir uns stark von unserer Geschichte inspirieren lassen.
Und da haben wir den Luxus, dass diese bei unserer Marke so vielfältig ist, und wir uns die schönsten Aspekte herauspicken können.
Um ehrlich zu sein, selbst ich war noch überrascht, als ich hier zum ersten Mal im Museum war. Und ich bin seit über 20 Jahren in der Uhrenindustrie.
Diese Vielfalt hilft uns sehr bei unserer Roadmap in die Zukunft. So haben wir unter anderem eine ganze Reihe an eigenen Kalibern lanciert – wie für die „Spirit Zulu Time GMT“, die „Ultra-Chron“ und die „Spirit Flyback“ – und weitere sind in der Entwicklung.
„Ziel ist es, die Longines-Geschichte und -DNA anhand dieser neuen, exklusiven Werke zu erzählen.”
Hinsichtlich des Preissegments lagen wir in den vergangenen zehn Jahren zwischen 1.000 und 5.000 Euro, und das wird so bleiben. Wir bieten State-ofthe- Art-Technologie auch weiterhin in diesem Preissegment an, in dem wir marktführend sind.
WP: Wie sieht es denn im Bereich Damenuhren aus? Dafür ist Longines ebenfalls sehr bekannt.
MB: Richtig. Wir produzieren bis zu 50 Prozent Damenuhren. Das ist wirklich einzigartig und hat uns in den vergangenen Jahren sehr stark gemacht.
Und wir haben eine sehr ausgeglichene Kollektion von sportlichen und klassischen Uhren. Und das gibt es in unserem Preissegment ebenfalls bei keinem unserer Mitbewerber.
Das spiegelt sich auch in unserem Slogan „Elegance is an Attitude“ wider.
„Diese Ausgeglichenheit werden wir beibehalten.”